Swipe durch die Welt

Beitrag zum Lyrik-Wettbewerb Connected von Merle L., 18 Jahre

Der Strohhalm klirrt im Glas,
grüner Matcha dreht sich, ein Herz aus Schaum,
ein Mandarinen-Zimt-Kuchen steht wartend vor mir,
ich wische zur Seite, Filter - dramatisch warm.
Draußen fließt das Leben in glänzenden Jacken vorbei,
innen fließt es durch mein Handy.
Ich tippe mich durch Welten aus Perfektion,
Gesichter aus Sonne, Stimmen aus Likes.
Sie trinkt denselben Latte wie ich,
doch bei ihr sieht der Schaum schöner aus.
Ich lache in die Kamera,
lösche das Foto,
probiere es noch einmal.
Vielleicht kann man Glück filtern.
Vielleicht ist sie nur das, was ich nicht bin.
Ein Wischen,
und ich bin bei ihr.

Ich bin das Mädchen aus dem Bildschirm,
das Mädchen, das nie müde aussieht.
Das Ringlicht ist meine Sonne,
mein Lächeln eine Währung.
Heute trägt mein Parfum Noten von Mandarine und Zimt,
teuer, schwer, eine Illusion von Wärme.
Ich tanze im Glanz,
aber niemand sieht, wie laut es in mir ist.
Zwischen Sekundenclips
verliere ich Stunden.

Mein fünfter Post:
#blessed #christmas #lifegoals,
Ein Like, ein Kommentar,
Millionen Herzen, die nichts bedeuten.
Ich kenne die perfekte Pose,
aber nicht mehr, wer ich bin, wenn das Licht ausgeht.
Mein Körper ist Kulisse,
mein Leben ein Skript aus Hashtags.
Ich öffne ein PR-Paket –
es riecht nach Plastik und Erwartungen.
Das Rascheln klingt fast wie Applaus.
Dann lege ich das Paket zur Seite
und schweige,
während draußen jemand klingelt.

Ich trage Kartons voller Sehnsüchte,
die andere bestellt haben,
um ihre Stille zu füllen.
Die Straßen sind grau,
meine Hände trocken,
meine Stimme fremd geworden.
Manchmal erinnert mich der Duft von Mandarinen und Zimt,
der aus einem Café aufsteigt,
dass ich noch etwas für meine Familie einkaufen wollte.
Vielleicht kann ich ihnen ein kleines Weihnachtslicht bringen,
wenn ich endlich nach Hause komme.
Jede Haustür ist ein Bildschirm,
hinter dem jemand wartet.
Ich übergebe ein Paket an die Influencerin,
die es sofort filmt und wegstellt.
Dann weiter, zu jemandem, der nie warten muss.

Der Wein schimmert rubinrot,
mein Handy flackert in der Dunkelheit.
Kinder in Staub,
Hände, die um Reis beten.
Ich drücke doppelt auf das Herz,
fühle – nichts.
Ich teile den Schmerz anderer
in meiner Story,
während ich die Stille meiner Wohnung genieße.
Der Duft von Mandarinen und Zimt hängt in der Luft –
ein teures Geschenk, extra fertiggestellt,
doch ich sehe nur mein Handy, nicht den Duft.
Ich bin ein guter Mensch,
sagt mein Spiegel.
Ich rede von Wandel,
von Hilfe, von Zukunft,
und meine damit:
die der anderen.
Ein Paket liegt neben mir,
ich öffne es nicht.
Ich weiß, was darin ist –
mein Teil der Schuld.

Die Luft hier ist schwer vom Lärm,
Nadeln stoßen im Takt,
ein Chor aus Metall und Müdigkeit.
Ich nähe Träume aus Staub,
Kleider aus Stunden, die mir niemand bezahlt.
Manchmal stelle ich mir vor,
wie sich der Stoff auf fremder Haut anfühlt –
weich, leicht, frei.

Die Sehnsucht nach Mandarinen und Zimt
schleicht sich in meine Gedanken,
ein Leben draußen, warm, vielleicht Weihnachten,
so fern wie der Himmel hinter den Fabrikfenstern.
Meine Finger zittern,
doch ich darf nicht anhalten.
Jede Naht ist ein Gebet,
dass meine Tochter
irgendwann nichts mehr nähen muss,
um gesehen zu werden.
Der Strom flackert –
und ich nähe weiter.

Die Luft riecht nach Mandarinen und Zimt,
nach Schnee, nach Straßenstaub.
Ich halte eine alte Puppe in den Händen,
schau sie an und frage mich,
wer sie wohl später hält, wer sie liebt.
Meine Schwester packt Schuhe und Jacken in Kartons,
ich folge ihr, stapfe durch die winterlichen Straßen,
die leise knirschen wie zerbrechliche Gläser.
Ich weiß nicht, wem wir helfen,
doch etwas in mir flackert hell,
wie der Duft, der durch jede Tür weht,
durch Hände, Häuser und Straßen,
und alles, was wir verbinden.
Vielleicht verstehe ich noch nicht alles,
doch ich gebe,
und etwas verbindet uns schon.



Vielleicht ist das Licht,
das uns verbindet,
nicht das vom Bildschirm,
sondern das,
das wir weitergeben,
wenn wir endlich hinsehen.

Autorin / Autor: Merle L.,