Spiegel an der Wand

Beitrag zum Lyrik-Wettbewerb Connected von Rosa, 24 Jahre

Spiegel Spiegel an der Wand- reflektierst du den Kapitalismus in unserem Land?

Ich stehe vor dir und sehe Individualismus in mir.

Nicht nur in mir, sondern in fast allen in diesem Land.

Wir leben für uns, denken an uns, arbeiten für uns, unternehmen etwas mit Freundinnen für uns, optimieren unseren Lebensstil für uns, gehen zu Therapiestunden für uns, lesen für uns, schreiben für uns und führen verschiedenste Beziehungen für uns.

Wir kaufen materielle Konzepte, die uns Glück versprechen. Mal durch ein Auto, mal durch ein Self-Care Resort, was uns positive Veränderungen verspricht. Für uns.

Ich sehe den Kapitalismus, wenn ich in dich hineinschaue.
Sehe die Lüge und die Illusion der Vereinzelung der uns vermeintlich Freiheit schenken soll.

Sehe die leeren Versprechen der Selbstverwirklichung, ich sehe jedoch nur Selbstverwertung.

Ich sehe, wie wir aus unserem tiefen Egozentrismus und unserer Selbstliebe die Welt ausblenden, unmoralische Menschen geworden sind und Kriege und Ausbeutung ein Video auf unseren iPhones bleibt.

Ich sehe, wie die Gesellschaft immer stärker in sich zusammenfällt, wie sich jedes Individuum immer mehr zurückzieht, an Kollektivität verliert und letztlich in Trauer verfällt.

Was war nochmal mit dem Versprechen, sich Glück kaufen zu können?

Bedeutet Glück eigentlich nicht die Fähigkeit zu fühlen? Nicht nur für mich, sondern für alle? Zu fühlen, was gerecht und ungerecht ist? Und zu fühlen, was schiefläuft?

Ich sehe in deinen Spiegel und sehe leere Seelen, keine Besonderheit mehr, sondern eine Arbeitskraft: Wie viel kann ich von dir für das System verwerten? Deine Einzigartigkeit wird zur Verkaufsstrategie.

Ich sehe in deinen Spiegel und wünsche mir eine Veränderung. Eine radikale Veränderung. Keine kapitalistischen Reformen, die keinem dienen außer dem System selbst.

Ich sehe in deinen Spiegel und will, dass wir diese Pest endlich überwinden, dass wir lernen für andere zu fühlen, aufzustehen, zu handeln und keine Nutzen-Kosten-Analyse machen, wenn es um Gerechtigkeitsforderungen geht.

Ich sehe in deinen Spiegel und bin jedes Mal darüber perplex, wie ich Kriegsgeschehnissen über mein Handy zuschaue, es weglege und weiterarbeite. Weiterleiste. Weiterfunktioniere.
Spiegel siehst du denn nicht auch, dass das System uns isoliert hält, um uns berechenbar zu halten? Um uns in Schach zu halten, während sie ganze Regionen ausbeuten und aus Eigennutz Krieg führen?

Und wohin schauen wir?

In dich.

Und sehen nur uns.

Wir sehen ein Preisetikett an unserer Stirn und Hoffnungslosigkeit.

Spiegel sag den Menschen, dass sie nicht in dieser Ohnmacht verweilen müssen!

Meine Stimme allein reicht nicht zu ihnen allen.

Denn sie werden nicht satt. Von nichts.

Sie verweilen in dem süßen Geschmack des Individualismus und denken es macht sie frei, aber sie werden nimmer und nimmer und nimmer satt.

Spiegel sag ihnen laut und deutlich, dass wir in diesem Leben zufällig als armes Kind im Kriegsgebiet geboren werden oder hier, wo es uns gut geht und wir trotzdem durch nichts glücklich und zufrieden werden.
Spiegel sag ihnen, dass sie Teil des Problems sind. Dass wir alle in diesem System stecken.

Sag Ihnen, dass es der Kapitalismus ist, der sie ins Verdorbene lockt.

Sag Ihnen, dass wir bald kein Planet mehr zum Leben haben werden und dass es erneut die armen Menschen aus prekären Regionen sind, die von den Konsequenzen als Erstes tragen und bereits ihr zu Hause überflutet wurde.

Spiegel Spiegel an der Wand – zeigt du mir die Wahrheit in diesem Land?

Autorin / Autor: Rosa, 24 Jahre