Die vier Himmelsrichtungen

Einsendung von Carya Fee, 18 Jahre

Das Wasser. Klar, himmelblau, fast durchsichtig, wirbelt durcheinander, hinterlässt Strömungen. Die Sonne berührt die Meeresoberfläche mit ihren warmen Strahlen, wodurch ein wunderschönes Schimmern entsteht, das für das Glänzen in meinen dunkelbraunen Augen verantwortlich ist. Ich atme tief ein und schließe meine Augen, um festzustellen, wie frei ich mich hier fühle.
Die Schönheit des unendlich weiten Meeres, das sich zwischen allen Kontinenten dieser Welt ausbreitet, ein Wunder der Natur.
Wellen brechen sich an den steinigen Felsen, die frische Meeresluft hinterlässt ihre Spuren im Wind, begleitet von einem beruhigendem Klang - dem Meeresrauschen.
Es scheint friedlich, unberechenbar.
Doch sobald ich meine Augen wieder öffne, wird mir bewusst, dass die Realität ganz anders aussieht. Mein Meerestraum zerplatzt.
Ich blicke auf ein trübes Wasser direkt vor mir. Ich kann nicht mal im flachen Wasser auf den Grund schauen. So verschmutzt brechen sich die Wellen an meinen Füßen.
Schnell trete ich ein Stück zurück, bevor mich die dunkelgraue Suppe verschlingt.
Ich dachte immer, das Meer, als Wunder der Natur, wäre stärker als alles andere - unberechenbar.
Doch wir, wir Menschen "brechen" es.

In der Ferne des Südens erkenne ich einen riesigen Frachter, der eine schwarze Spur hinter sich her zieht. Ausgelaufenes Öl verteilt sich verloren im Ozean.
Meine Gedanken widmen sich den Fischen, den Delfinen, allen Meeresbewohnern, für die das schwarze Öl der Tod bedeutet.
Der Lebensraum zahlreicher Tiere, ihr Zufluchtsort wird direkt vor meinen Augen zerstört und ich kann nur trostlos dabei zusehen.
Plötzlich entdecke ich eine kleine grüne Schildkröte neben mir im Sand, verfangen in einer Plastiktüte, versucht verzweifelt sich mit ihren winzigen Flossen zu befreien.
Schnell bücke ich mich, um das kleine Wesen aus seinem Gefängnis zu befreien. Ich nehme sie auf meine Hand, und fange gerade an die Plastiktüte abzustreifen. Doch zu spät, sie nimmt ihren letzten Atemzug in meinen Händen. Vor Trauer senke ich meinen Kopf und schaue zur Seite.

Westen. Mein Blick fällt nach Westen.
Eine graue, tief schwarze Wolke steigt am Himmel auf. Ein Farbenspiel aus orange, gelb und rot zieht sich am Horizont entlang. Ein unstillbares Feuer.
Ich höre die schrillen Hilferufe der flüchtenden Tiere. Eine Koala Mama versucht zusammen mit ihren Kleinen aus dem Höllenfeuer zu entkommen, doch eine Flamme kommt ihnen zuvor.
Stürmisch drehe ich mich, um dem schrecklichen Anblick zu entkommen. Doch ihre Schreie hallen in meinem Kopf wie ein Echo.

Norden. Ich befinde mich im Norden.
Ich erwarte Schneeflocken, die vom Himmel rieseln und mich empfangen.
Stattdessen empfängt mich eine Pfütze an Land des Antarktis. In ihrem Spiegelbild ein abgemagerter Eisbär. Sein Fell verschwitzt, die Augen matt.
Die Gletscher schmelzen im Sonnenschein. Sie sind nicht mal mehr einige Meter hoch, sondern werden zu tropfendem Wasser, das sich seinen Weg in den Ozean bahnt.
Ich nehme die Geräusche des brechenden Eises wahr und schenke dem Eisbären einen letzten Blick, direkt in seine erschöpften Augen.
Mein Herz rast, weshalb ich mich dazu entscheide weiterzugehen.

Eine Drehung später schaue ich in den Osten.
Ich höre dieses Mal schreiende Menschen und ihre schnellen Schritte. Sie rennen. Rennen um ihr Leben, bevor die riesige Welle ihres nimmt. Es stürmt, blitzt und donnert.
Keine Sekunde später fängt der Boden an zu beben. Die Häuser vor mir stürzen durch die Vibration zusammen. Ich höre die Fenstergläser zerspringen. Wie die Koala Mama, versuchen auch hier Eltern mit ihren Kindern auf den Armen der Katastrophe zu entfliehen. Doch die Riesen Wellen und die bebende Erde verfolgen sie.
Mit schnellem Atem stehe ich dort, kann wieder nur tatenlos zusehen.
Mein Herzschlag wird von Sekunde zu Sekunde stärker.
Ich muss weg von hier.

Ein letztes Mal drehe ich mich, öffne meine Augen und blicke wieder auf den Frachter am Horizont, doch es hat sich etwas verändert. Ich schaue auf ein noch schwärzeres Meer als zuvor.
Der Himmel geziert von grauen Wolken, bildet das dunkle Dach unserer Erde.
Ich werfe einen Blick über meine Schulter. Die kleine Schildkröte liegt immer noch dort im Sand.
Erneut bücke ich mich zu ihr hinunter, hebe sie auf meine Hände und beschließe ihr an einem schönen Platz unter einer Palme die letzte Ruhe zu geben.
Mein Kopf dröhnt. Die Erinnerungen aus Nord, Ost, West und Süd wiederholen sich pausenlos in meinem Kopf, während ich dort fassungslos und völlig leer vor dem vergifteten Meer stehe.
Ich blicke in die Ferne und aus meinen einzig glänzenden dunkelbraunen Augen kullert nun eine Träne ganz langsam und bedacht an meiner Wange herunter.
Sie brennt wie ein Schnitt auf meiner Haut.
Ich halte mir die Hände an den Kopf, fange an zu schreien und drehe mich noch einmal um mich selbst. Alle Himmelsrichtungen kommen mir entgegen.
Ein letztes Mal schaue ich mich um, bevor ich anfange zu rennen. Ich tue nichts anderes.
Ich muss einfach nur weg von allem, was mir begegnet ist.
Ich renne nach Hause zu meiner Familie in unsere kleine Hütte.
"Unsere Erde stirbt! Lasst uns verdammt nochmal handeln!", rufe ich und lasse mich erschöpft auf den Boden sinken, wo mich alle vier Himmelsrichtungen wieder einholen.
Es gibt keinen Weg, ihnen zu entkommen.