Der Steingarten-Blues

Einsendung von Lars Terhorst, 24 Jahre

„So, bevor ihr zum Ausgang stürmt und den Heimweg antretet, noch eine kleine Hausaufgabe: Bis morgen nominiert bitte jeder ein Wort und ein Unwort des Jahres 2022, aber macht euch bitte Gedanken und wählt nicht irgendwelche Wörter. Also dann, ab nach Hause!“, ruft Frau Altbauer, die Lehrerin der Klasse 4 C.

Während der Heimfahrt drehen sich Lisas Gedanken um die eben gestellte Aufgabe. Als sie den Bus verlässt und den kurzen Weg von der Haltestelle nach Hause läuft, sieht sie ihren Lieblingsnachbarn im Garten stehen, wie er dem autonom fahrenden Bus hinterherschaut. „Donnerlittchen, ich bin immer wieder aufs Neue begeistert, wie diese neumodischen Busse ohne Fahrer sicher von A nach B kommen!“, ruft Alfred Lisa entgegen. Doch Lisa hört ihn kaum, so sehr denkt sie darüber nach, welche Worte sie nominieren soll. „Mensch Lisa, ich hoffe du bist mit deinen Gedanken schon bei den Hausaufgaben. Das wäre die einzige Entschuldigung, die ich gelten lassen würde“, legt Alfred lachend nach. „Oh, Hallo Alfred, das bin ich tatsächlich“, entgegnet Lisa. „Wenn du ein Wort und ein Unwort des Jahres nominieren müsstest, welche wären das?“, fragt Lisa nachdenklich.

„Nun ja, nicht ganz einfach. Worte, die Titelchancen als Wort des Jahres hätten, gibt es sicher wie Sand am Meer. Beim Unwort des Jahres hingegen ist es leicht: Steingarten“, antwortet Alfred, dessen Miene sich beim Aussprechen des Wortes „Stein-Garten“ sichtbar verzogen hat. „Was ist denn ein Steingarten? Und wieso überhaupt soll ein Wort es verdienen, das Unwort eines Jahres zu sein?“ fragt Lisa.

„Ein Wort wird für mich zum Unwort des Jahres, wenn es hauptsächlich negativ konnotiert ist, die Mehrheit der Leute also schlechte Laune bekommt, wenn sie es hören, so wie es vor einigen Jahren das Wort Klimahysterie geworden ist. Du weißt schon, wenn Leute die Arbeit von Klimaschützern schlecht machen wollen“, versucht Alfred zu erklären. „Und warum es in diesem Jahr nur Steingarten sein kann, will ich dir auch erklären“, fährt Alfred fort. „Schau dir mal da links diesen sogenannten Vorgarten dieser unausstehlichen Nachbarn an“, deutet Alfred mit einer abfälligen Kopfbewegung auf das Nachbargrundstück. Beim Blick auf den Vorgarten des Grundstücks der Familie von Raben fällt Lisa auf, was Alfred meint. Während im Garten von Lisas Familie alle möglichen Blumen, Sträucher, Gräser und Bäume blühen und für ein buntes und lebhaftes Bild sorgen, erwecken die dort aufgeschütteten Steine ein eintöniges Bild, das jede Form natürlicher Lebensfreude vermissen lässt. Lisa dreht sich um und schaut zu Alfred, der gerade seine neu gesetzten Bäume gießt. „Steingarten, verstehe“, murmelt Lisa. „Viel Stein, wenig Garten. Finde ich auch voll ätzend! Und wenn ich daran denke kriege ich wirklich schlechte Laune und werde ein bisschen traurig. Ein Garten sollte bunt sein. Nicht nur bunte Blumen, sondern auch bunte Tiere! Schmetterlinge, Bienen, Vögel, Libellen - so sollte ein Garten aussehen. Du Alfred, warum pflanzt du eigentlich so viele Bäume?“, fragt Lisa.

„Das hängt unter anderem mit dem Wort des Jahres 2020 zusammen : Corona-Pandemie“, antwortet Alfred.
„Hä, was haben Bäume mit der Corona-Pandemie zu tun?“, fragt Lisa.
„Mehr als du glaubst“, entgegnet Alfred. „Wie du dich ja sicher erinnerst, wurde das Leben während der Pandemie phasenweise mit den sogenannten Lockdowns heruntergefahren. Weniger Autos, kaum Flüge; weniger Abgase aus Fabriken und von Baustellen - kurzum eine grandiose Reduzierung der Emissionen“, beginnt Alfred.
„Ja, ein Riesenglück für die Umwelt! Und in den Hafenbecken wurden sogar wieder Delfine gesehen“, entgegnet Lisa aufgeregt.

„Und genau da scheiden sich seit der Pandemie die Geister. War Corona wirklich ein Segen für die Umwelt? Klar, die kurzzeitige Luftverbesserung ist in den großen Industrienationen, wie Deutschland, den USA oder China, nicht von der Hand zu weisen. Aber gleichzeitig ist die Waldfläche, die gerodet worden ist, in dieser Zeit geradezu explosionsartig angestiegen. Alleine im März des Jahres 2020 wurde in den drei am stärksten betroffenen Ländern, Indonesien, Kongo und Brasilien, eine Fläche von über 3.100 Quadratkilometern gerodet, das ist eine Fläche fast zehnmal so groß wie München.“

„Die Lunge unserer Erde brennt- ich erinnere mich noch genau, wie Mama mir eines Morgens die Schlagzeile vorgelesen hat und mir die Bilder aus dem Amazonas-Gebiet gezeigt hat“, seufzt Lisa.

„Genau - und so wie das Corona-Virus unter anderem die Lunge der Menschen angegriffen hat, so hat während der Pandemie auch die Lunge der Erde gelitten. Leute, die illegal Waldflächen durch Brandrodung dezimieren, halten sich in der Regel nicht an Ausgangssperren oder Empfehlungen ihrer Regierung. Schlimmer noch, die haben sogar einen Vorteil daraus gezogen, weil die Sicherheitskräfte und Aktivisten, die den Regenwald sonst im Auge haben, nicht zugegen waren. Natürlich weiß ich, dass ich bei mir im Garten keinen Regenwald pflanzen kann, aber wenn jeder ein klein wenig Aufforstung betreibt, können wir vielleicht etwas erreichen. Oh, und so ein schattiges Plätzchen unter einem Baum ist bei den Temperaturen im Sommer auch nicht zu verachten. Denn die Blätterkronen der Bäume schützen nicht nur Pflanzen vor dem Vertrocknen, sondern kühlen auch wunderbar die Straßen und Asphaltflächen.“

„Aufforstung, das wäre doch ein prima Wort des Jahres“, freut sich Lisa.
„Jetzt, wo du es sagst…“, stimmt Alfred schmunzelnd zu.
„Es war wie immer ein Vergnügen mit dir zu plaudern“, ruft Lisa, „aber jetzt muss ich schnell rein, sonst schimpft Mama wieder. Mach´s gut!“
„Du auch - und grüß deine Mama“, antwortet Alfred und wendet sich wieder seinen Setzlingen zu.

„Na Lisa; mal wieder mit Alfred Pläne zur Weltverbesserung erörtert?“, wird Lisa von ihrer Mama gefragt.
„Nö, Mama, heute nur Hausaufgaben“, antwortet Lisa lachend und ist mit ihren Gedanken schon wieder weit fort- „Wie wohl ein Stück Regenwald in Alfreds Garten mitten in unserer Siedlung aussehen würde?“