Wahlbrand

Einsendung von Armin Kautler, 22 Jahre

Sie war in Kriegsstimmung. Denn morgen war der Tag der Wahrheit, oder eher: der Tag der Wahl. Während Mona noch damit beschäftigt war ihren Kopf im Nachdenken zu trainieren - ein durchaus komplizierter und anstrengender Prozess, hatte Miles längst seine gesamte Brillanz in den sozialen Netzwerken entladen.
„Wieso sind in einer Welt des Schwarz-Weiß-Denkens graue Lösungen bereits 'Outside-the-Box', wo doch selbst Kinder in Farbe malen?“, lautete der Post, der leider nicht die erhoffte Reaktion zeigte. Es dauerte noch drei weitere Posts von Miles, bis sich die gewünschte Social-Media-Debatte über das aktuelle Klimaproblem und mögliche Lösungen ergeben hatte.
Wenig später hatte auch Mona ihren Denkprozess abgeschlossen und machte sich in Küche und Garage an die Vorbereitungen. Als sie mit Rucksack und Grimasse die gemeinsame Wohnung verließ, trieb ihr Mitbewohner gerade mit zahlreichen Posts und Kommentaren den landesweiten Strompreis 1ct in die Höhe.

In der Kantine angekommen entlud sich Monas Wut. Gemeinsam mit unzähligen anderen Rebellen schrie sie sich die Seele aus dem Leib. Ihr war nicht ganz klar, warum die anderen wütend waren und was sie wollten. Spielte es eine Rolle, wenn sie doch gegen die gleiche Person waren?
Diese Person war die Chefin der größten Firma im Lande - und als wäre das nicht genug, war sie auch die Chefin der Regierung. Wer so viel Einfluss hatte, musste sich nicht damit begnügen, die Regierung zu bestechen - man konnte einfach die Regierung sein. Die Frau war so gut wie allmächtig hier.
Da saß sie: eine grauhaarige Frau mittleren Alters, die es nicht schaffte ihr Essen zu Ende zu bringen, bevor sie sich erhob, um die Menge mit einer Ansprache zu beruhigen. Doch Mona war nicht fürs Multitasking gemacht und so kam das Zuhören zu kurz, als sie den ersten Molotov-Cocktail warf.

Miles hatte sich in der Zeit zu den Waldbränden begeben, wo er als „Reporter vor Ort“ die sozialen Netze weiter befüllte. Bilder der brennenden Bäume entfachten einen weiteren, virtuellen Diskussionsbrand. Dann jedoch erfuhr er von der Demonstration und machte sich sofort auf den Weg. In seiner Eile wäre er beinahe über einen Eimer Wasser gestolpert, dem er gerade noch rechtzeitig auswich, ohne dabei den Blick vom Handy heben zu müssen. Zum Glück, denn sonst wäre sein kritischer Post am Ende gar unvollständig verschickt worden.
„Wie können die Strompreise so hoch sein, wenn man einen Anreiz für Elektroautos schaffen will?“, lautete seine neuste Kreation. Er merkte nicht, er hatte eben den landesweiten Strompreis um einen weiteren Cent nach oben getrieben.

Sicherheitskräfte hatten Mona aufgegriffen und sie ins Büro der Chefin gebracht, die sie zu ihrem Verdutzen in aller Ruhe empfing.
„Setz dich. Bei der Gewalt, die du mir heute entgegengebracht hast, hast du mir wohl etwas mitzuteilen. Du hast meine Aufmerksamkeit.“
Mona war zu erstaunt, um zu reden. Ihr Denkprozess am Morgen hatte sie hierhin geführt. Statt sich mit den Ökofritzen anzulegen, wollte sie sich bei der Chefin beschweren, dass sie auf diese hörte. Sie war hier, damit sie, das einfache Volk, nicht vernachlässigt wurde.
„Wieso tun Sie mehr fürs Klima als für uns?“
„Was ich fürs Klima tue, tue ich auch für euch. Durch die Maßnahmen wird eure Welt anders, aber wenn wir richtig vorgehen, wird sie für euch dabei nicht schlechter.“
Doch Mona hatte gar nicht richtig zugehört.
„Ich bin unzufrieden. Die Maßnahmen sind übertrieben.“
Die Chefin gebot Mona sich hinter sie zu stellen, sodass sie freien Blick auf die Monitore auf dem Tisch hatte. Darauf zu sehen waren Live-Übertragungen aus allen Winkeln des Landes. Mona staunte. Das machte die Frau so gut wie allwissend.
„Übertrieben, ja? Sieh es dir an. Egal, was für einen Glauben und was für Gefühle du mitbringst, sie sind relevant, ich verstehe sie. Egal, welche Fakten du dir ausgesucht hast. Mach die Augen auf. Wir alle - diese, die führen und diese, die geführt werden, wir müssen verstehen, dass das Problem da ist. Damit fängt es an. Und dann müssen wir verstehen, dass es viele, viele Ebenen hat. Es ist nicht nur ein globales Problem, sondern es ist vielschichtig, vernetzt und kompliziert. Wenn du denkst die Maßnahmen sind überzogen, denk nochmal.“
Mona schwieg kurz.
„Selbst wenn ich falsch liege, die Maßnahmen nützen nichts. Keiner ist mit ihnen zufrieden.“
„Ja, keiner ist zufrieden. Und während du Molotov-Cocktails wirfst, polarisiert der Rest im Netz. Kein Wunder, dass man keinen gemeinsamen Konsens finden kann, wenn man sich immer weiter ins Extreme treibt.“
Mona spürte, wie die Chefin doch tatsächlich andeuten wollte, dass es ihre eigene Schuld war. Das war doch kaum zu fassen!
„Ihre Politik macht das! Sehen sie nur, was Ihre Führung mit dem Volk gemacht hat!“, sie zeigte dabei auf den Bildschirm, auf dem die grüne Demonstration und ihre Gegendemonstration in Gewalt ausartete. „Sie haben die Welt so gemacht, das Leben auf Erden zu dieser Hölle gemacht!“
Da endlich war es der Chefin genug und zum ersten Mal wurde sie laut.
„Ich war das? Ich habe euch einen Himmel gegeben. Sieh, was ihr daraus gemacht habt! Ja, jetzt brennt es. Es brennt in unserem Land, in der ganzen Welt und in unseren Köpfen. Jetzt brennt es selbst in der Kantine! Wer hat diese Feuer gelegt?“
Auf einem Bild war zu sehen, wie die Kantine mühsam gelöscht wurde. Auf einem anderen brannte der Wald. Auf wieder einem anderen sah man die Demonstration. Da war Miles. Sie sah gerade rechtzeitig, wie ein Stein ihn am Kopf traf und er blutend zu Boden sank.
„Ja, sieh dir diese Schlägerei an. Ihr schlagt euch die Köpfe ein über die Klimafrage. Da liegt Miles, der Mensch, nicht Miles der 'Ökofritz'. Ist das, was ihr wollt, denn wirklich so verschieden?“
„Natürlich ist es das!“, rief Mona.
Nach einem längeren Blick auf Miles, der inzwischen regungslos war, sagte sie: „Natürlich ist das, was wir wollen, verschieden.“ Und weil die Nachdenklichen und Bedachten immer leiser sind, kaum hörbar: „Oder?“

Autorin / Autor: Armin Kautler, 22 Jahre