Schwarze Löcher

Einsendung von Belle, 20 Jahre

Schwarze Löcher haben mir schon immer Angst gemacht. Doch nun, da ich beinahe mühelos durch diese Unendlichkeit, in der sie beheimatet sind, gleite, verwandelt sich diese Angst in eine reale Gefahr. Eine Berührung mit ihnen und jeder, der sich noch traut hier zu forschen, versinkt in ihnen, wird von ihren schwarzen Klauen gepackt und tief in den dunklen Schlund gezogen.

Doch dieses Risiko muss ich eingehen; denn ich habe eine Mission. Und sie liegt direkt unter mir: Durch das unendlich scheinende, tiefdunkle Blau meine ich eine Form, eine Stadt erkennen zu können, meine eigentliche Heimat erkennen zu können, wie sie unter mir liegt.
Ein schmerzhafter Stich zieht durch mein Herz und meine Armbewegungen werden schneller, hektischer, verzweifelter. Mir bleibt hier nicht mehr viel Zeit, bis der Sauerstoff ausgeht und ich zurück zur Station muss. Umso aufgeregter nehme ich nun wahr, dass die Formen unter mir bereits etwas klarer zu werden scheinen und schöpfe Hoffnung.
Kann das sein? Kann ich jenen Ort etwa schon erreicht haben? Auch wenn ich bereits unzählige Märchen über ihn gehört habe, konnte ich sie nicht wirklich glauben, wollte mir die Hoffnung auf einen solchen Ort bisher nicht erlauben, aus Angst davor, enttäuscht zu werden. Denn enttäuscht wurde ich in meinem Leben schon genug:

Ich bin auf einem Wüstenplaneten aufgewachsen, auf dem die Menschen kaum Wasser haben, in einer Wüste, in der die Menschen keinen Willen haben. Er ist gestorben, langsam ausgetrocknet und eingegangen wie all jene Geschöpfe, die in den Märchenbüchern als ‚Pflanzen‘ bezeichnet werden. Vor dem Schauer, der mich bei dem Gedanken an diese Welt überkommt, kann mich auch der dicke Schutzanzug, den ich für meine Mission bereitgestellt bekommen habe, nicht schützen. Im Gegenteil: Hier in dieser scheinbar toten Umgebung werden meine Erinnerungen umso lebendiger und es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Mich von dem trockenen, pelzigen Gefühl in meinem Mund und dem Kloß in meiner Kehle abzulenken, die sich langsam anschleichen, wenn ich daran zurückdenke, wie ich nicht nur körperlich, physisch, sondern vor allem auch seelisch, psychisch drohte zu verdursten, bevor ich einen der begehrten Forschungsplätz in der Unterwasserstation ergattern konnte, von der aus ich heute losgetaucht bin.

Ich war gefangen in einem Fluch, aus dem ich nun zu entkommen versuch. Aus dem ich nicht entfliehen, nicht wirklich entfliegen kann ins Weltall, aber dem ich vielleicht enttauchen kann, aus dem ich auftauchen kann, indem ich in die Tiefen des Atlantiks, in die Tiefen dieser wässrigen Version des Alls abtauche.

Indem ich aus der Hölle auf Erden, der oberen ‚Unterwelt‘ in die ehemalige ‚Oberwelt‘ dem versunkenen Paradies im Wasser gehe, nur noch schwimme und nicht mehr stehe. Nicht mehr stehe, auf und in dem, was die Menschheit inzwischen ‚Land‘ und ‚Leben‘ nennt, was aber doch eigentlich kein Leben mehr ist, sondern vielmehr ein sich aufgeben. Statt mich mit diesem Aufgeben abzufinden, habe ich mich bereit erklärt, alles für diese Mission herzugeben - vielleicht auch mein Leben - denn diese Unendlichkeit des Meeres durch die ich hier tauche, ist gefährlich; Licht gibt es hier nur spärlich. Was nicht von den schwarzen Löchern aus Öl verdunkelt wird, das liegt unter dem Schatten riesiger Müllkometen, die immer wieder langsam an mir vorbeischweben, sich unangenehm aus dem einst so friedlichen Blau hervorheben. Aus diesem Blau, das einst nicht schwarz und tot war wie das All, dem es nun ähnelt, sondern voller Farben, voller Leben.

Und genau nach diesem (ehemaligen) Leben suchen wir Menschen hier nun immer eifriger: Obwohl die Wahrscheinlichkeit, es in diesen dunklen Untiefen des Wassers zu finden, wohl genauso gering ist, wie es in jener Unendlichkeit des Weltalls zu finden, so müssen wir es doch versuchen. So bleibt uns doch nichts anderes übrig, als trotzdem immer weiter zu suchen. Weil wir unbedingt wissen wollen, wie es wohl war, hier zu leben, muss ich nun alles für diese Mission geben: Alle Kraft, die noch in meinem schwachen – wie die Wälder und Felder ausgedörrten - Körper steckt, um räumlich voranzukommen und so gewissermaßen zeitlich zurückzukommen. Zurück zu jener Stadt, zu jenem Leben, dem ich mich nun immer weiter nähere, dessen vor mir nun aufleuchtende Schönheit ich wie nichts auf dieser Welt sonst ehre: Venedig.
Oder etwa doch nicht?
Kurz bin ich verwirrt.
Die Sicht wird immer schlechter und hätten wir die Koordinaten nicht im Vorfeld so genau berechnet, könnte ich es nicht von anderen ‚Atlantis-Städten‘ wie Hamburg, New-York oder den Malediven unterscheiden.

Es stört mich, nicht mehr genau erkennen zu können, worauf ich zuschwimme. Denn egal wie heftig ich auch mit den Armen rudere, um voranzukommen: Die Schönheit verblasst. Wird verdeckt von einem jener schwarzen Löcher, die hier unten so gefürchtet sind; - wird verdeckt von einer dunklen Wolke des Öls, die sich gierig über sie schiebt. Einer Wolke des Öls, die unsere ehemalige Stadt genauso gierig frisst, wie unsere Maschinen vor Jahrzehnten das Öl gefressen haben: Als wollte es sich an uns rächen, verwandelt es sich nun in ein schwarzes Loch, das den Zugang zu unserem alten Leben verriegelt. Dass das Misslingen des Abgangs jedes neuen Lebens in seine Tiefen besiegelt.

Deswegen spreche ich nun zu euch, dir ihr noch oben und in der Vergangenheit seid, die ihr noch nicht vollkommen versunken seid im Leid: Schaut nicht zu, wie diese Tür sich immer weiter verschließt, wie die Menschheit sich mit ihren eigenen Waffen erschießt. Sondern sucht nach dem Schlüssel.
Sucht nach dem Schlüssel, doch erwartet nicht, ihn zu finden, schon gar nicht bei anderen. Sondern seid bereit euch für seine Erschaffung selbst zu ‚schinden‘.
Denn aus dem Resultat allen Schaffens, allem Schindens, erhebt sich das Paradies:
Dann erhebt sich die Zukunft aus den schwarzen Löchern, in die unser Konsum sie einst stieß.

Autorin / Autor: Belle, 20 Jahre