Wertvoll

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Jenny Cazzola, 23 Jahre

Nervös streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann krampfe ich meine Hände wieder um die Räder meines Rollstuhls. Soll ich reingehen? Bevor ich mich aber entscheiden kann, geht die Tür auf und ein großgewachsener Mann steht vor mir.
„Oh, hallo! Sind Sie auch hier für …?“
„Für den Kurs in deutscher Gebärdensprache, ja.“
Der Raum hinter der Tür sieht so aus, wie man das von einem Kursraum der Volkshochschule erwartet. „So weit, alles barrierefrei“, denke ich erleichtert und streiche mir ein weiteres Mal das Haar aus dem Gesicht. Es war ein langer Weg bis hier her.
Aufstehen. Duschen. Mich anziehen. Durchaus normale Tätigkeiten. Auch für jemanden mit einer Behinderung. Solche Dinge brauchen halt manchmal etwas mehr Zeit bei mir und mitunter bin ich auf Hilfe durch meine Mutter angewiesen, aber wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team. Frisch gestriegelt und geschniegelt geht es dann mit dem Auto von unserem Dorf aus zum nächsten Bahnhof. Das ist normalerweise auch kein Problem. Leider muss meine Mutter heute arbeiten, sonst hätte sie mich einfach mit dem Auto die ganze Strecke gefahren und ich hätte mir eine Menge Stress und Probleme erspart. Auf der anderen Seite bin ich auch schon Mitte 20 und durchaus dazu in der Lage, alleine einen Zug bis nach Bozen zu nehmen. Vorausgesetzt, alles klappt.
Die meisten Züge in Südtirol sind nämlich nicht barrierefrei. Nur einzelne Wagons haben einen Platz für Rollstuhlfahrer, und der muss jedes Mal reserviert werden. Per Telefon. Bei einer kostenpflichtigen Nummer. Die nur vormittags besetzt ist. Und die Reservierung muss mindestens drei Tage vor der geplanten Reise stattfinden. Einfach mal spontan sein, ist da nicht. Aber wer will das schon?
Hat man diese Hürde einmal genommen, bekommt man die Bestätigung per E-Mail zugesandt, gemeinsam mit der Aufforderung, sich doch bitte 30 Minuten vor der jeweiligen Zugfahrt am Bahnsteig einzufinden. Wozu? Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Ahnung. Angeblich, damit die Mitarbeiter, die zu meiner Hilfestellung bereitstehen, mich angemessen in Empfang nehmen können. Allerdings werde ich von ebenjenen Mitarbeitern meistens nur mehr oder weniger böse angeguckt und darauf hingewiesen, dass eh noch massig Zeit ist, bis der Zug eintrifft.

Darum heißt es als nächstes: Warten auf den Zug, während jemand losrennt und die Hebebühne holt, mit der ich in den Zug verladen werde. Kommt der Zug endlich, habe ich kurz die Möglichkeit, ihn in all seiner majestätischen Hässlichkeit zu bewundern, während die anderen Fahrgäste ein- und aussteigen dürfen. Wie immer drängt sich mir dabei die Frage auf, wieso die Ferrovie dello Stato Italiano an diesen altmodischen Wagons festhalten, die nur durch eine steile Treppe zu erreichen sind und die damit einen Großteil an fahrradfahrenden, gehbehinderten Menschen aller Art und Eltern mit Kindern im Kinderwagen erfolgreich von der täglichen Benutzung des Zuges abhalten. Warum nicht etwas entwerfen, das für alle zugänglich ist? Weil es dazu führen würde, dass unsere Gesellschaft etwas inklusiver wird? Weil es mehr Gleichberechtigung bringt und es den Menschen das Leben erleichtern würde? Weil sich dadurch jeder italienische Staatsbürger etwas mehr wertgeschätzt fühlen würde?

Bevor ich eine Antwort auf diese Fragen finden kann, werde ich schon zum hinteren Ende des Zuges geschoben, auf die klapprige Hebebühne gestellt und in den Wagon gehievt. Der Rest ist ein Klacks. Bleibt mir nur zu hoffen, dass auf der Rückfahrt alles genauso glatt läuft …
„Guten Nachmittag“. Die Stimme des Kursleiters holt mich wieder in das Hier und Jetzt zurück. Richtig, der Gebärdensprachen-Kurs, deshalb habe ich heute diese Strapazen auf mich genommen! Wobei sämtliche Gedanken an die anstrengende Zugfahrt schon bald vergessen sind. Nach einer kurzen Vorstellung der Kursinhalte bekommen wir das Gebärden-Alphabet erklärt und lernen unseren Namen zu buchstabieren. Es macht mehr Spaß, als ich erwartet habe und so langsam beginne ich mich zu entspannen.

Nach ein paar Übungsrunden sollen wir im Raum umhergehen und uns untereinander mit Gebärden vorstellen. Mein erster Gesprächspartner ist ein älterer Herr. Nachdem wir uns ungelenk gegenseitig unsere Namen gezeigt haben, beugt er sich vertraulich zu mir hinunter:
„Sagen Sie, ich will Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber was macht jemand wie Sie eigentlich hier?“
„Jemand wie ich?“
„Ja, ich meine wir sind doch heute alle hier, um zu lernen wie man Menschen wie Ihnen helfen kann. Um zu lernen, wie man mit Menschen wie Ihnen kommuniziert.“
„Ach, Sie meinen Menschen mit einer Behinderung?“
„Ja mit Menschen, die … halt anders sind. Die Hilfe brauchen. So wie Menschen, die nichts hören. Oder Menschen, wie Sie die …“
„Nicht laufen können?“
„Ganz genau. Aber wir, das heißt, wir normalen Menschen, sollten doch die sein, die helfen und Ihnen sollte doch geholfen werden, oder?“

Manchmal vergesse ich, wie rückständig die Menschen in meiner Heimat sein können. In ihren Köpfen gibt es nur eine Vorstellung: Menschen mit Behinderung sind hilflos und alle anderen sind dazu aufgerufen, ihnen zu helfen. Und in der Zwischenzeit stehen die Behinderten brav in ihrer Ecke und warten darauf gesehen, gehört und in die Mitte der Gesellschaft aufgenommen zu werden.

„Ich meine, ist es für Sie nicht anstrengend hier zu sein? Sollten Sie nicht zuhause sein, sich ausruhen und von Ihrer Rente leben?“
Einen Augenblick lang bin ich versucht ihm zu sagen, dass er sich seine Klischees gerne sonst wohin stecken kann. Aber das würde mich nur wie eine wütende Furie aussehen lassen.
„Ach wissen Sie“, antworte ich ihm stattdessen. „Sie haben ja recht. Mein Leben ist sehr oft ziemlich anstrengend. Aber ich glaube auch, dass es noch viel anstrengender wäre, wenn die meisten Menschen mich nicht verstehen würden. Deswegen möchte ich etwas dazu beitragen, dass die Menschen untereinander sich ein wenig besser verstehen. Das ist es mir einfach wert.“

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