Meinungsvielfalt, nicht Polarisierung

Studie: Auswertung von Bevölkerungsbefragungen zeigen, dass unsere Gesellschaft keineswegs so gespalten ist, wie immer behauptet wird. Polarisierende Themen sind zudem andere als gedacht.

Ist unsere Gesellschaft hoffnungslos gespalten? Hier woke Großstädter:innen, dort ewig gestrige Traditionswahrer:innen? Hier Klimaschützer, dort rücksichtlose SUV-Fahrer:innen auf dem Weg zum Flughafen? Hier Gendersternchen-Angsthasen, dort "Genderwahn"sinnige? Und dazwischen nur ein Abgrund?

Stimmt gar nicht, sagen Soziolog:innen der Freien Universität Berlin und der Universität Bielefeld. Ihre Studie ist nicht die erste zum Thema gesellschaftliche Spaltung, aber eine, in deren Rahmen besonders viele Umfragedaten ausgewertet wurden. Die Forscher:innen hatten sich mit der Frage beschäftigt, ob unsere Gesellschaft wirklich so gespalten ist, aber auch, was dazu führt, dass Menschen sich zu bestimmten Themen besonders kontrovers äußern.

Eine nennenswerte Polarisierung lässt sich in Deutschland bei keinem Thema beobachten

Die Forscher:innen haben die Antworten auf insgesamt 817 Fragen ausgewertet, die das Meinungsforschungsinstitut Civey in verschiedenen Umfragen deutschen Bürger:innen zwischen Januar und Oktober 2022 gestellt hat. Alle Umfragethemen hatten eine politische Stoßrichtung und damit auch Streitpotential, zum Beispiel Fragen wie „Für wie bürokratisch halten Sie Deutschland?“ über „Sollten Plastiktüten sofort verboten werden?“ bis zu hin zu „Sollten homosexuelle Paare die gleichen Adoptionsrechte haben wie heterosexuelle Paare?“

Kaum wirklich polarisierende Themen - am strittigsten war Frage zu Organspende

Eines der Kernergebnisse der Studie: Eine nennenswerte Polarisierung lässt sich in Deutschland bei keinem Thema beobachten. Diese läge erst vor, wenn sich die überwiegende Mehrzahl der Bürger:innen für einen der beiden Pole des Meinungsspektrums entscheiden würde, erklärt die Makrosoziologin Prof. Dr. Céline Teney. Bei nur 20 Prozent der Fragen zeigten sich an den Rändern gewisse Ballungen. So war eine der strittigsten eine Frage zur Organspende: „Sollte jeder Erwachsene automatisch als Organspender gelten, wenn er nicht explizit widerspricht?“. Bei dieser Frage ballten sich die Antworten der Befragten mehrheitlich auf den zwei entgegengesetzten Polen, deutlicher Zuspruch bzw. deutliche Ablehnung.

Wie stark eine Frage das Antwortverhalten von Befragten polarisiert, wurde von den Forschenden anhand des sogenannten van-der-Eijk-Index gemessen. Der Index reicht von -1 bis +1. Der Wert -1 bedeutet, dass sich die Befragten klar in zwei Lager aufteilen lassen und eine von zwei extremen Antwortkategorien wählen. Der Wert +1 bedeutet, dass alle Befragten das gleiche Antwortverhalten zu einer Frage haben. Die Frage zur Organspende wies in der Studie einen van-der-Eijk-Index von -0.55 und damit die stärkste gemessene Polarisierung auf.

Was begünstigt Polarisierung in Befragungen?

Was aber führt zu solchen gegensätzlichen Meinungen bzw. dazu, dass Menschen in Befragungen so oder so antworten? Die Forscher:innen haben hier vier Faktoren gefunden, die eine Rolle dabei spielen:

  • Gegensätzliche Meinungen werden häufiger geäußert, wenn ein Thema kürzlich besondere Beachtung in den Medien gefunden hat. „Steht ein Thema im Fokus, fühlen sich viele Bürger:innen emotional genötigt, Position beziehen“, erläutert Dr. Giuseppe Pietrantuono von der Freien Universität Berlin. Das gelte besonders, wenn sie sich dazu früher bereits eine Meinung gebildet haben. „Neue Informationen und Einschätzungen werden entweder als Bestätigung verstanden oder als Bedrohung der eigenen Denkweise abgewiesen.“
  • „Harte“ politische Fragen sorgen eher für eine Polarisierung als Fragen mit einem sozio-kulturellen Hintergrund. Zur Überraschung für die Forschenden sorgten demnach Themen wie "Unterstützung für die Ukraine" für deutlichere Polarisierung als der Einsatz für die Rechte von LGTBQI+ und ethnischer Minderheiten sowie das Reizthema Gender. „Unsere Analyse lässt den Schluss zu, dass es sich bei den Verächter:innen der sogenannten ‚Wokeness‘ eher um eine Minderheit handelt“, resümmiert Professor Dr. Céline Teney.
  • Betont eine politische Frage die zu erbringenden persönlichen Opfer, steigt die Zahl der stark ablehnenden beziehungsweise stark zustimmenden Antworten. Betont die Frage hingegen einen möglichen Nutzen, fallen die Ausschläge sehr viel moderater aus. Beispiele aus dem Jahr 2022: Die Forderung nach einer allgemeinen Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen (Beschränkung individueller Freiheit) hatte ein höheres Polarisierungspotenzial (-0,32 auf dem van-der-Eijk-Index) als das Privileg, ohne Covid-Test zur Schule zu gehen (Aufhebung einer Beschränkung, 0,00 auf dem Index).
  • Je konkreter es wird, desto gegensätzlicher fallen die Reaktionen aus. Beispiel: Die meisten Bürger:innen werden wohl Geschlechtergerechtigkeit grundsätzlich unterstützen. Bei der Frage nach Quoten gehen die Meinungen aber auseinander. „An Werte wie Fairness zu appellieren, überbrückt Gegensätze“, sagt Dr. Giuseppe Pietrantuono. „Erst an den konkreten politischen Instrumenten scheiden sich die Geister.“ Diese Tatsache sollte beispielsweise in Umfragen stärker berücksichtigt werden. „Wenn ich zu Polarisierung forsche, sollte ich sachlich, aber konkret fragen“, so Dr. Giuseppe Pietrantuono. „Andernfalls weise ich möglicherweise Harmonie nach, wo keine herrscht.“

Prof. Dr. Céline Teney betont: „Die soziologische Forschung hat wiederholt nachgewiesen, dass von einer Meinungspolarisierung in Deutschland keine Rede sein kann. Wir hoffen, dass unsere besonders große Stichprobe von Fragen dazu beitragen wird, die Debatte auf die wahren Gefahren für unser Zusammenleben zu lenken: Desinformation und eine verrohende Diskussionskultur“ Hier müssten Politik, Medien und Zivilgesellschaft ansetzen, statt sich an der falschen Diagnose „Polarisierung“ abzuarbeiten, so die Soziologin.

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 8. Mai 2024