Naturwissenschaft wird unterschätzt

Bildungswissenschaftler plädiert für einen Unterricht, der wissenschaftliche Bildung attraktiver macht

Dass Bildung eine wichtige Voraussetzung ist, um im Leben klar- und voranzukommen steht außer Frage. Aber meist scheinen die Geisteswissenschaften in unserer traditionellen Vorstellung davon, was Bildung ist, eine dominierende Rolle zu spielen; die Naturwissenschaften würden dagegen unterschätzt. So sieht es jedenfalls Professor Lars Ulriksen vom Lehrstuhl für naturwissenschaftliche Bildung an der Universität Kopenhagen, der zu dem Thema einen Forschungsartikel in der dänischen Fachzeitschrift für Mathematik und naturwissenschaftliche Bildung MONA veröffentlicht hat.

Er ist der Meinung, dass erst seit dem Jahr 2000 die Rolle der Naturwissenschaft in der Bildung mehr in den Mittelpunkt rückt. Trotzdem werde sie oft noch als Anhängsel betrachtet, als etwas Sekundäres, das nur dazu gebraucht wird, um gesellschaftliche Probleme zu lösen und sich an demokratischen Debatten zu beteiligen. Doch diese Sichtweise unterschätze das Bildungspotenzial der Naturwissenschaften, ist Ulriksen überzeugt.
"Die vorherrschende Meinung ist, dass naturwissenschaftliche Bildung einen Menschen dazu befähigen soll, etwas 'nach außen hin' zu tun. Dies spiegelt sich in den Lehrplänen der Grund- und Sekundarschulen wider. Das naturwissenschaftliche Wissen soll dazu dienen, Argumente über Klimamodelle und Atomkraft gründlich nachvollziehen zu können oder Respekt vor Natur und Umwelt zu gewinnen, der wiederum zur Förderung der Nachhaltigkeit genutzt werden kann.“ Was aber bei dieser Sichtweise fehle, sei der Teil, der sich mit der Bildung des Individuums durch Selbstreflexion und den Blick nach innen beschäftigt - wo man Fragen stelle wie: Wer bin ich? In was für einer Welt lebe ich? Wer bin ich in dieser Welt?

Naturwissenschaften und philosophische Fragen

Was das Nachdenken über die philosophischen Fragen des Lebens angeht, so hätten die Naturwissenschaften definitiv etwas zu bieten: "Es gibt viel Material, das junge Menschen zum Beben bringen kann. Die Astrophysik ist ein so ein Bereich, mit Themen wie dem Urknall und der Unendlichkeit des Universums. In der Mathematik und der Physik kann ein Mensch die Erfahrung machen, dass er sich selbst auf objektive Wahrheiten hin analysieren kann, dass nicht alle Dinge verhandelbar sind. In der Biologie kann unsere Position im Ökosystem Gedanken über ein Ganzes hervorrufen, dessen Teil wir Menschen sind. Wie könnte es zum Beispiel unsere Wahrnehmung der Identität verändern, wenn wir bedenken, dass unsere Zellen ständig abgebaut und wieder aufgebaut werden? Ist man am Ende trotzdem noch derselbe? Diese Art von existenziellen Fragen können dazu beitragen, den Einzelnen auf einer persönlichen Ebene zu formen“, so Ulriksen.

Wenn dieser Aspekt der Wissenschaft ins Spiel gebracht werde, könne dies den persönlichen, introspektiven Teil der Bildung fördern und jungen Menschen einen differenzierteren Blick auf die wissenschaftliche Bildung ermöglichen. "Wir wissen, dass es Probleme damit gibt, das Interesse am naturwissenschaftlichen Unterricht und an den Naturwissenschaften bei Jugendlichen aufrechtzuerhalten, wenn sie das Jugendalter erreicht haben. In der Regel heißt es, dass sie dann beginnen, sich mehr für sich selbst als Mensch zu interessieren und insbesondere mehr über Psychologie herausfinden wollen. Wenn wir ihnen die Augen dafür öffnen, dass die Wissenschaft tatsächlich diese Art von subjektiver Betrachtung hervorrufen kann, können wir vielleicht die Aufmerksamkeit einiger Schüler:innen wecken, die wir noch nicht erreichen", erklärt der Bildungsforscher.

Aufruf an die Lehrer:innen

Der Ball liege bei den Lehrer:innen, denn sie seien diejenigen, die als erste das Potenzial dieser Seite der Wissenschaft erkennen, die laut Lars Ulriksen das Selbstbewusstsein der Schüler:innen auf eine ganz andere Weise fördern kann als die Geisteswissenschaften. "Schließlich gibt es keinen automatischen Bildungserfolg, wenn man jedes Wort von Hamlet oder Der Kaufmann von Venedig liest. Es geht um die Verarbeitung - darum, sich dem Material zu öffnen und daran zu arbeiten, es in sich aufzunehmen. In den Geisteswissenschaften wird dies einfach stärker umgesetzt und ist ein integrierter Aspekt des Verständnisses der Lehrer." Man müsse das Bewusstsein dafür schärfen, dass dies auch ein wichtiger Aspekt des wissenschaftlichen Unterrichts sein kann.
Es seien zwar nicht alle wissenschaftlichen Materialien dafür geeignet, aber Pädagog:innen und Schulbuchautor:innen sollten sich bei der Auswahl von Material, Themen oder Beispielen fragen: "Gibt es hier irgendwo einen Punkt, an dem ich meine Schüler dazu bringen kann, mit Aspekten eines bestimmten Themas zu arbeiten, die große identitätsstiftende Fragen aufwerfen? Und kann ich als Lehrer Fragen stellen, die die Schüler dazu einladen, die Wissenschaft mit sich selbst als Mensch in Verbindung zu bringen?"

Nach Ansicht von Ulriksen kann die Art des Unterrichts hier einen Unterschied machen:
"Ein forschungsbasierter Unterricht wäre hier wahrscheinlich sinnvoll. Dass der Unterricht so organisiert ist, dass die Schüler weniger mit vorgefertigten Fragen und Antworten arbeiten, sondern mehr die Möglichkeit haben, Dinge zu untersuchen und sogar Fragen zu stellen, die sie dazu bringen, ihrer eigenen Neugierde nachzugehen. Es gibt bestimmte Erfahrungen und Denkprozesse, die am besten funktionieren, wenn sie ergebnisoffen sind", so Professor Ulriksen abschließend.

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Autorin / Autor: Redaktion/ Pressemitteilung - Stand: 11. Dezember 2023