Estland

Genau da habe ich einen Teil meiner letzten Ferien verbracht...

Vielleicht hat man ja vom Grand Prix de la Chanson in Tallinn gehört, der dort vor 2 Jahren stattfand, oder bei genauerem Studium der EU-Beitrittskandidaten auch Estland auf der Liste entdeckt. Doch wer hat schon eine wenigstens vage Vorstellung über dieses flächen- und bevölkerungsmäßig betrachtet doch eher kleine Land „da oben in Europa“?

Ehrlich gesagt wusste ich fast nichts über Estland, als ich mich im Mai dazu entschloss an einem Workcamp teilzunehmen. Workcamp, das heißt für eine kurze Zeit mit Leuten aus aller Welt (oder wenigstens ganz Europa) zusammenzuleben und zu arbeiten. Die Kosten sind dabei relativ niedrig, dafür sollte man sich von Unterkunft und Verpflegung natürlich nicht zu viel Luxus erwarten. Soweit entschieden, fehlte nun nur noch ein Land. Nach Italien oder Frankreich zog es mich nicht sonderlich, alles schon aus zahlreichen Urlauben bekannt, etwas mehr Exotik bitte wäre schön. Die meinte ich dann in Narva-Joesuu, einem kleinen estnischen Seebad direkt an der Grenze zu Russland zu finden.

Einige Monate später Anfang August bestieg ich dann eines schönen heißen Morgens einen Bus der mich bis nach Tallinn, der estnischen Hauptstadt bringen sollte. Nach 36 Stunden Fahrt erreichten wir diese dann endlich. Zu meinem Entsetzen empfing mich gleich eine sengende Hitze, und das obwohl ich mich doch so hoch nördlich wähnte. Die schweißtreibenden Temperaturen sanken auch in den nächsten Tagen, die ich noch in Tallin verbrachte, nicht. Trotz allem war mein Eindruck von der estnischen Hauptsadt sehr positiv: eine liebevoll restaurierte mittelalterliche Innenstadt (samt einer schon beträchtlichen Menge an Touristen!), moderne Kaufhäuser, stadtnaher feinster Sandstrand, insgesamt alles sehr gepflegt und sauber und bis auf die vielen Plattenbauten in den Vororten kaum noch eine Spur von Sowjetzeiten!

Bald setze ich mich wieder in einen Bus, doch diesmal nur für kurze 4 Stunden, um das von Tallinn 200km östliche gelegene Workcamp zu erreichen. Durchs Fenster beobachtete ich Felder, Wiesen, Wald (wovon das eher agrarisch geprägte Estland reichlich zu bieten hat!) und später leider auch trostlose Plattenbausiedlungen und veraltete Fabriken. Das also war nun der Osten Estlands, der immer noch sehr unter den Altlasten der russischen Besatzung leidet.

Kurze Zeit später hieß es dann Aussteigen, und ich fand mich in einem verschlafenen Strandort voller hübscher Holzhäuser wieder, der allerdings bestimmt auch schon bessere Zeiten gesehen zu haben schien. Nach kurzem Fußmarsch war auch meine Unterkunft für die nächsten zwei Wochen erreicht. Der erste Eindruck war, sagen wir es mal, gewöhnungsbedürftig. Ein 9-stöckiges Hotel das vielleicht vor 20 Jahren modern war. Inzwischen blätterte der Putz von den Decken in den Zimmern und das Treppenhaus war überhaupt nicht beleuchtet.

Am nächsten Morgen sah alles schon besser aus, und dank weiterhin hochsommerlichen Temperaturen sprangen wir, gleich nach dem Müllaufsammeln am Strand (Work), in die erfrischend kühlen Fluten der Ostsee. Langsam lernten wir uns gegenseitig auch kennen: Die meisten Teilnehmer kamen aus Estland oder dem nahen St. Petersburg/Russland. Außerdem hatten sich noch ein paar Letten, Schweizer, Franzosen, Belgier sowie Deutsche gen Nordosten gewagt. Verständigt haben wir uns alle auf Englisch. Wir gingen nun jeden Vormittag entweder an den Strand, zwecks Säuberung von Müll, oder zu einem alten Holzhaus, dass mit Eisenstangen und Kuhfüssen abgerissen wurde. Nachmittags gab es dann meist Diskussionen oder Aufgaben, die in Teams erledigt werden mussten. Highlights waren Ausflüge in die nächste Großstadt (Narva), zu einem orthodoxen Kloster sowie ein Saunabesuch.

Nun, trotz teilweise eingeschränkter Ausdruckmöglichkeiten im Englischen wurden schnell Freundschaften geschlossen, und die Zeit verging wie im Flug. Auch wenn die Bedingungen nicht immer ideal waren (einseitiges Essen, schlechtes Wetter) war es eine einmalige Erfahrung, einmal ein Land nicht nur als Tourist zu erleben und die Vorurteile gegenüber einem der ehemaligen „Ostblockstaaten“ abzubauen.

Für mich ist klar, dass ich bald wieder an einem Workcamp teilnehmen werde, mal sehen, welches Land mich diesmal in seinen Bann ziehen wird! Ich kann nur jedem raten, der gerne Leute aus aller Welt trifft, preisgünstig an einen Auslandsaufenthalt kommen möchte und/oder seine Englischkenntnisse verbessert zu gedenken, auch einmal die Teilnahme an einem Workcamp zu wagen!

Autorin / Autor: mora - Stand: 14. Oktober 2003