Dreizehn deutsche Geschichten

Erzähltes Leben aus Ost und West

„Die Ossis“ und „Die Wessis“ sind nun seit fast zwanzig Jahren wieder vereint – und doch wissen viele erstaunlich wenig über die Menschen im „anderen Deutschland“. Erschreckend wenig. Das ist Ignoranz im Wortsinn – das lateinische „ignorare“ bedeutet nämlich „unkundig sein, nicht kennen, nicht wissen“ – die zu der deutschen Bedeutung des Ignorierens, nämlich des Nichtbeachtens, oft sogar zu Vorurteilen und darin begründeter Ablehnung. Ein Teufelskreis.

Diesen versucht Professor Wendelin Szalai zu begegnen, indem er 13 „Deutsche Geschich-ten“ von 17 „Ossis“ und „Wessis“ in einem Gesprächskreis gesammelt hat – nur 13 aus 17, weil unter den Gesprächsteilnehmern insgesamt 4 Paare sind, die ihre Geschichten gemein-sam vorstellen. In 13 Treffen des ursprünglich nur zum privaten Austausch gedachten Forums präsentiert jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin die persönliche Ost-West-Biografie, sowohl im Zu-sammenhang mit politischen als auch mit privaten Ereignissen. Das Projekt ist so angelegt, dass nichts des Gesagten aus dem Raum dringen soll – doch schon während der Präsentati-onsphase kristallisiert sich für die Erzählerinnen und Erzähler heraus, dass ihre Geschichten als Beitrag zur geistigen und kulturellen Wiedervereinigung Deutschlands aber vor allem auch zum besseren Verständnis von Ost und West untereinander durchaus veröffentlichungswert sind.

Neugierig blättere ich in dem edel eingebundenen Taschenbuch. Jede Biografie wird mit ei-nem Porträt der Person(en) und einem kurzen Text, in dem sie sich vorstellen, eingeleitet. Vom Professor über das Arbeiterkind, den ehemaligen Nazi genauso wie den überzeugten Kommunisten finde ich alle politischen, geistigen und anderweitig gesellschaftlich definier-ten Gruppen repräsentiert. Was jedoch alle Beiträge auszeichnet ist ein außerordentlich hohes Maß an Reflexivität – sowohl die eigene Person als auch die gesellschaftlichen und politischen Umstände betreffend. Es ist beeindruckend, wie offen und frei die Menschen über ihr Leben, ihre Ziele, Träume, Utopien und auch über ihre Fehler sprechen, wie sie Fehltritte verarbeitet haben und noch verarbeiten.

In der Sammlung „Dreizehn Deutsche Geschichten“ wird deutlich, was eigentlich jeder und jedem klar sein sollte: „Die Ossis“ und „Die Wessis“ gibt es nicht. Es gibt eine Vielzahl von Einzelschicksalen, die durch die gesellschaftspolitischen und historischen Umstände geprägt worden sind. Es gibt Menschen, die die Ideologien der einzelnen Teile der heutigen Bundes-republik überzeugt gelebt oder abgelehnt haben. Und es gibt Menschen, die sich in ihren Privatbereich zurückgezogen haben, um sich möglichst wenig von der Politik beeinflussen zu lassen. Was jedoch allen gemein ist, dass ihnen im Grunde nichts gemein ist – dass man sie nicht auf den Faktor „Ost“ oder „West“ einschränken kann. Mit dieser Botschaft und vor dem Hintergrund des in wenigen Jahren anstehenden Jubiläums der Wiedervereinigung leistet das Buch einen hervorragenden Beitrag zur gegenseitigen geistigen Annäherung (sofern sie nach dem Gesagt überhaupt nötig ist) und zu einem besseren Verständnis der „anderen“ Kultur. „Dreizehn Deutsche Geschichten“ ist ein Buch, das im Geschichts- oder Sozial-kundeunterricht der gymnasialen Oberstufe gelesen werden sollte, um den Schülerinnen und Schülern eine lebendige und lebensnahe Beschäftigung mit der (vermeintlichen?) Ost-West-Problematik zu ermöglichen.

Autorin / Autor: firstmary - Stand: 19. Mai 2008