Berti

Wettbewerbsbeitrag von Julia Fragnelli, 23 Jahre

Was uns niemand über Spiegel sagt ist, dass sie unsere besten Freunde sind.
Denn im richtigen Licht sind Spiegel ehrlich. Sie zeigen uns die Sorgenfalte auf unserer Stirn, und die Akne auf unserer gereizten Haut. Vor Spiegeln können wir ein Lächeln nicht fälschen, weil wir in ihnen auch unsere Augen sehen. Sie reflektieren nicht bloß das, was wir sind, sondern auch, was wir glauben zu sein. Spiegel wenden sich nie von uns ab, auch nicht wenn wir den Blick von ihnen nehmen. Nicht wenige Menschen, die nicht mögen, was sie sehen, mögen das anders sehen. Aber Berti gehört nicht zu diesen Menschen.

Berti. B.E.R.T.I. Der gleiche Name, der zwei Menschen beschreibt. Die erste Berti ist gerade 18 geworden. Sie sitzt breitbeinig und grinsend vor dem Mann mit der Nadel, die jeden Moment in ihr Fleisch eindringen wird. So haben es ihre Eltern schon gemacht, und für Berti macht es Sinn das gleiche zu tun. Und wo die Nadel war, wird ein Bild hinterlassen – ein anstößiges Tattoo. In Zukunft werden noch viele folgen, was zum Vorteil hat dass man die Einstichwunden der anderen Nadel nicht erkennen wird. Berti mag es tagsüber betrunken zu sein, und nachts zu tun, was auch immer sie will. Sie, die Stimme ihres Vaters. Ihr Vater, ein Mann der keine Grenzen kennt, hat Berti früh vorgemacht, wie man sich selbst verachtet. Wie man alles und jeden lieben kann, weil es Spaß macht, frei zu sein, und es befreiend ist, haltlos zu leben – bis man früh am Morgen nach Hause kommt und in den Spiegel sieht. Aber das hat der Vater Berti verschwiegen. Sie steht vor den Kratern einer verätzten Haut, weil Drogen sich nicht gut mit dem Körper vertragen, vor blasenübersäten Lippen vom Blasen und Küssen, und vor Augen umrandet von dunklen Halbmonden, die nicht wären, hätte Berti den Mond seltener gesehen. Mein Leben ist lustig, es gibt kein Problem, denkt Berti bis eine Stimme in ihr fragt, ob sie sich auch die Kugel geben würde, wenn man es ihr anböte. Und voller Scham, die sie nicht fühlt, wendet sich Berti vom Spiegel ab. Die Jahre vergehen, mit dem Spaß als treuer Begleiter, und als Bertis Freunde beginnen sich weiterzubilden, kommt der Gedanke auch ihr. Vielleicht gibt es doch mehr als nur Spaß, denkt sie als sie im Vorlesungssaal sitzt, bis das Sitzen sie zu provozieren beginnt. Frustriert über das Maß an Disziplin, das ihr fehlt, um überhaupt zu verstehen, worum es geht, das ihr erlaubt in Gedanken zu versinken, die sich um die zwei Typen von gestern Nacht drehen, und darum wie hässlich die Frisur des Mädchens vor ihr ist, verlässt Berti den Saal und geht trinken. Bald tut sie das nur noch allein, weil ihre Freunde morgen früh arbeiten müssen, oder eine Klausur vor ihnen liegt. Ihre Eltern sagen nichts dazu, auch wenn sie Berti für ihren Lebensstil verurteilen. Zumindest können sie sich selbst versorgen, und Berti liegt nur auf der faulen Haut, lässt ihr Gehirn vergammeln und wirft ihre Gesundheit weg. Was für eine Tochter. Berti hält es nicht mehr aus. Sie geht auf Reisen, ohne Geld, und sucht sich nur Orte, an denen das geht.

Und so trifft Berti auf Ursula, die in Portugal lebt, mit einem riesigen Garten. Und den Freiwilligen, die kommen um im Garten zu helfen, bietet Ursula ein Leben mit der Natur, eine warme Unterkunft und drei Mahlzeiten am Tag. Berti lässt es sich gut gehen, macht ihre Arbeit nur halbherzig und trinkt mit den anderen Freiwilligen nachts im Wald. Das Gefühl aus dem eigenen unbeschränkten Leben auszubrechen, und die Regeln des beschränkten Lebens anderer Menschen zu brechen, gibt Berti das Gefühl, machtvoll und lebendig zu sein. Aber sie kennt Ursula nicht. Ursula, eine streng religiöse Frau, die ihren Körper verhüllt und Gott verehrt, ist eine Frau ihrer Worte. Wenn sie sagt, dass sie etwas tut, dann tut sie es, und sie tut es richtig, voller Hingabe, ohne Beschwerde, und ohne Frust. Weil sie liebt, liebt sie richtig, und so kocht sie nicht bloß Essen, sondern bereitet ein Festmahl. Sie ist nicht bloß ein Gastgeber, sie ist ein Wegweiser. Sie weiß, wer sie ist, was sie zulässt und was sie nicht zulässt. Sie weiß, was sie kann und was sie nicht kann, und sie empfindet dafür keine Scham. Sie weiß, dass es Teil des Menschseins ist, verloren zu sein und Fehler zu machen, und sie versteht die Fehler und Makel jedes Menschen. Ursula lädt einem nur auf, was man tragen kann, und erwartet, dass man es trägt. Aber Berti weigert sich gegen ihre Last. Sie, die Grenzen hasst, kann nicht verstehen wie eine, deren Leben von Grenzen bestimmt ist, glücklich sein kann. Und so testet sie die Grenzen von Ursula aus. Erst später, viel später, wird Berti verstehen dass Grenzen uns nicht einschränken, sondern befreien. Dass Grenzen uns erlauben in den Spiegel zu sehen, und weder das Schlechte noch das Gute zu erkennen, sondern nur das was ist. Weil man abgrenzen kann.

Berti Nummer Zwei wird morgen 30. Sie steht aufrecht und lächelnd vor der Frau mit der Nadel, die die letzten Stiche am blauen Kleid vornimmt. Bertis Eltern sitzen daneben, und können nicht fassen, dass das ihre Tochter ist. Ihre Tochter, verhüllt vom samtigen Stoff eines gradlinig geschnittenen und bescheidenen Kleides. Niemand würde darunter Tattoos erahnen, und schon gar nicht solche wie die, die es sind. Das Kleid ist nicht für ihren Geburtstag gedacht, sondern für ihre Wiedergeburt. Berti betrachtet sich schweigend im Spiegel. Schon lange hat ihr Körper keine Drogen mehr erlebt, und niemandes Gelüsten gedient. Und der Halbmond unter ihren Augen entstammt der vergangenen Nacht, in der sich Berti fragte ob sie bereit ist, und ob sie es wert ist. Und sie fand keinen Schlaf, weil sie nicht perfekt ist. Weil Menschen Fehler machen. Und das ist ok, denn Berti steht trotzdem hier. Bei der Frau mit der Nadel, vor sich selbst im Spiegel. Die Scham, die Berti einst heimlich empfand, als sie die Krater auf ihrer Haut, die Piercings auf ihren Nippeln, und das Flehen in ihren Augen sah, besteht heute nicht mehr. Sie erkennt die Narben der vergangenen Zeit, und sie erkennt dass es Narben sind. Nicht mehr und nicht weniger. Berti mag, wie sie die Dinge jetzt sieht. Das Lächeln, das sie dem Spiegel schenkt, lächelt zurück. Heute braucht Berti nicht wegzusehen. Die Frau mit der Nadel erhebt sich, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Du bist soweit.“, erklärt sie stolz, und Berti glaubt ihr. Sie, Berti und ihre Eltern, betreten die Kirche, und all ihre Jugendfreunde sind dabei. Berti nimmt vorne Platz, neben dem Pastor, und hört sich alles an. Bis der Zeitpunkt gekommen ist. Bis Berti in ihrem blauen Kleid ins Wasser steigt, die Hand des Pastors hält, und, nachdem er seine heiligen Worte spricht, im Wasser versinkt. Mit nassem Körper taucht sie auf, und der Pastor verkündet stolz ihre Taufe. Berti greift nach dem Handtuch und wischt sich übers Gesicht, und das Wasser nimmt auch ihre Tränen mit, sodass sie breit grinsend aus dem Becken steigt und in stillen Gedanken Ursula dankt. Ursula, die ihr mehr als nur ein Gastgeber war. Die Berti den Weg wies, immer und immer wieder, weil sie eine Frau ihrer Worte ist. Und weil sie einem nur das auflädt, was man tragen kann.               
 

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Am 27. November 2022 fand die Lesung zum Schreibwettbewerb VERWANDELBAR statt, bei der fünf der Gewinner:innen ihre wunderbaren Texte präsentierten. Moderiert wurde die Lesung durch den Autor Manfred Theisen, der auch Mitglied der Jury war.

Autorin / Autor: Julia Fragnelli, 23 Jahre