Es gibt kein Grundrezept ...

Da schleicht sich eine wunderbare Geschichte in den Kopf - doch wie soll man sie zu Papier bringen? Die Autoren Christa Hein und Henning Boëtius, beide erfolgreiche Schriftsteller, zeigen, wie man Sprache gezielt einsetzt und so Spaß am Schreiben hat. Hier gibt es für Autorinnen und solche, die es werden wollen, einen Auszug aus der Schreibwerkstatt.

Christa Hein und Henning Boëtius

Für das eigentliche Werk zwischen Anfang und Schluss gibt es keine Regeln, höchstens Empfehlungen. Man sollte z.B. die Erzählperspektive und die Zeitform des Anfangs beibehalten und nur ändern, wenn man damit eine bestimmte Absicht verfolgt. Man sollte sich auch davor hüten, zu viel zu recherchieren. Manchmal können zu viele Fakten einem Text den Atem, die Leichtigkeit rauben. Die meisten längeren Texte sind in Abschnitte oder Kapitel untergliedert. Das ermöglicht es dem Autor, sich auf kleinere Teile zu kon - zentrieren und sie so lange zu bearbeiten, bis sie ihm als gelungen erscheinen. Diese Abschnitte gleichen Zimmern in einem großen Haus. Zwischen ihnen gibt es wieder Türen, das sind die Anfangs- und Schlusszeilen eines Kapitels. Sätze wie »Zwei Tage später …« oder »Als er glaubte, dass schon alles zu Ende war ...« bilden einen Auftakt, einen kleinen Neuanfang oder eine Wende der Handlung. Eine solche Gliederung erleichtert die Arbeit an großen Romanen sehr.

… aber wichtige Zutaten

Nun zu den einzelnen ›Zutaten‹, die man braucht um einen Roman oder eine Geschichte zu schreiben: Personen, Handlung, Orte, Dialog, Erzählperspektive, Verwicklung/Konflikt.

  • Personen
    Es empfiehlt sich, mit einer Figur zu beginnen. Denn hat man eine Person, dann entsteht automatisch eine Handlung. Irgendetwas muss die Person ja tun. Und sei es auch nur, dass sie schläft, wie in dem Roman »Oblomow« des russischen Autors Iwan Gontscharow (1812–1891). Der Held liegt die ganze Zeit im Bett und schläft meistens. Auch das kann eine ganze Romanhandlung ausmachen. Aussehen, Vorlieben und Eigenschaften von Personen sind wichtig für eine Geschichte. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie schön oder hässlich, groß oder klein, jung oder alt, bedeutend oder unbedeutend sind. Auch moralische Eigenschaften werden vom Autor nicht beurteilt, sondern für seine Geschichte eingesetzt. Es wird natürlich oft versucht, sich strahlende Helden und besonders böse Bösewichte auszudenken und die Handlung auf ihren Kampf aufzubauen, wie es zum Beispiel J. R. R. Tolkien macht in »Der Herr der Ringe«. Doch längst gibt es auch den Antihelden, den Menschen, der in kein solches Schema passt, aber der doch sehr differenziert fühlen und handeln kann. Viele Geschichten und Romane erzählen nicht den Wett - streit von Gut und Böse, sondern gestalten weniger simple Auseinandersetzungen, zum Beispiel die Konflikte zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern, Männern und Frauen. Glück, Freundschaft und Liebe sind denkbare Themen, obwohl es meistens schwieriger ist, sie spannend zu gestalten als Themen wie Verlust, Enttäuschung, Kummer. Ein oft bearbeiteter Stoff ist der mühsame Aufstieg eines Helden oder einer Heldin aus schwierigen Verhältnissen hin zum Erfolg, der klassische Bildungs- oder Entwicklungsroman. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, ob man sich vornimmt, eine Geschichte glücklich, mit einem Happy End ausklingen zu lassen oder tragisch oder aber, was auch eine gute Möglichkeit ist, offen. Dann weiß man nicht, ob die Hauptfigur die erreichte Position wird halten können. Eines aber ist auf jeden Fall wichtig bei der Gestaltung von Roman figuren: Als Autor bist du ihr Schöpfer, ihr Erzeuger, und deshalb musst du sie alle liebevoll behandeln, egal wie sie sind, ob Versager, ob Bösewicht, ob Held, ob Randfigur. Eine gute Geschichte lebt davon, dass alle Personen gut und ohne Schwarz-Weiß-Malerei beschrieben werden, unabhängig von ihren moralischen Qualitäten oder ihren charakterlichen Eigenschaften. Das gilt für einen moralisch vorbildlichen Menschen genauso wie für einen Fiesling, für einen langweiligen Menschen ebenso wie für einen interessanten. Du wirst übrigens merken: Personen mit negativen Eigenschaften lassen sich oft besser beschreiben als edle Menschen.
  • Handlung
    Handlungen können interessant oder auch belanglos sein und doch durch eine gute Sprache zu großer Form auflaufen. Gewöhnlich ist eine Handlung chronologisch aufgebaut, so wie die wirkliche Zeit. Doch das muss nicht durchgängig so sein. Es gibt viele Möglichkeiten der Gestaltung: Vorausdeutungen und, ungleich wichtiger, Rückblenden. Mit diesen wird das übliche Nacheinander der Geschehnisse verlassen. Die Geschichte springt um Stunden, Tage, oder so - gar Jahre zurück. In den Text eingebunden werden solche Rückblenden durch Sätze wie diese: »Damals hatte er zum ersten Mal gemerkt, dass ihn seine Mutter angelogen hatte. Er war zehn Jahre alt und Weihnachten stand vor der Tür …« Solche Rückblenden können sehr nützlich sein, wenn man die Geschichte eines ganzen Lebens erzählen will. Würde man sich streng an die Chronologie halten, würde das Buch viel zu dick. Rückblenden dienen also der Straffung einer Geschichte und nicht, wie man meinen könnte, ihrer Verlängerung. Früher gab es Regeln dafür, wie eine Handlung am besten aufgebaut sein soll. Doch Begriffe wie Exposition (die Vorbereitung der Ereignisse), Höhepunkt, Wendepunkt sind heute veraltet. Man ist als Autor völlig frei, wie man die Handlung führt. Auch Abschweifungen sind erlaubt. Hier lassen sich alle möglichen Gedanken, Einfälle, Ideen unterbringen. Mit der Abschweifung verwandt ist die Wiederholung. Auch sie trägt nichts zur Entwicklung der Handlung bei. Deshalb wird sie meistens als Fehler eingestuft und möglichst vermieden. Es gibt aber Fälle, in denen die Wiederholung durchaus ihren Sinn hat. Man kann so verhindern, dass eine wichtige Textstelle in Vergessenheit gerät. Man kann auch eine Person dadurch charakterisieren, dass sie sich wiederholt und beispielsweise immer wieder das Gleiche denkt. In früheren Zeiten waren solche Abschweifungen sehr beliebt – in einer Zeit, als es noch kein Fernsehen mit seinen vielen Reportagen gab und kein Internet, das Informationen zu allen möglichen Themen blitzschnell zur Verfügung stellt. Die Romanschreiber sorgten mit ihren Abschweifungen oft dafür, dass diese Neugier der Leser gegenüber der Welt bedient wurde.
  • Orte
    Als Nächstes braucht man natürlich einen Ort, an dem die Person sich aufhält. Denn niemand bewegt sich einfach im luftleeren Raum. Der Ort kann ein eigenständiger Teil des Romans werden. Dann spielt er eine große Rolle. Er kann auch nur den Rahmen für die Handlung bilden. Er kann äußerlich spiegeln, was im Innern der Figur vorgeht. Und er kann im Gegensatz dazu stehen. Er kann auch wechseln, wie bei einem Reiseroman oder der Geschichte einer Entdeckung, und damit zum Träger der Handlung werden.
  • Erzählperspektive
    Was wirklich in den Personen vorgeht, kann etwas anderes sein, als das was sie aussprechen. Bei einer entsprechenden Erzählperspektive lässt sich das dem Leser auch mitteilen. Ein innerer Monolog zum Beispiel verrät die Gedanken einer Person völlig ehrlich, denn man will sich ja möglichst nicht selbst belügen. Bei der Erzählperspektive, die eine Geschichte aus der Er/Sie/Es-Sicht darstellt, lassen sich leicht Hinweise einbauen wie z. B.: »In Wirklichkeit dachte sie gar nicht daran, fortzugehen.« So lässt sich der Widerspruch zwischen dem Verhalten und den inneren Gefühlen und Gedanken einer Person zum Ausdruck bringen.
  • Verwicklung /Konflikt
    Sobald mehrere Personen auftreten, entstehen Beziehungen zwischen ihnen. Sie können ganz verschiedener Natur sein: Es kann eine Freundschaft sein, Liebe, es kann aber auch Streit, Verrat, Missverständnisse oder Betrug geben. Dies sind die Konflikte, die die Geschichte tragen. Je nach Konflikt wird die Richtung bestimmt, in welche die Geschichte sich weiterentwickelt und wie die Figuren handeln. Aber nicht nur echte Konflikte können eine Handlung vorantreiben, auch Verwicklungen sind hierzu sehr geeignet. Man verpasst sich um Minuten, man täuscht sich über die wahren Absichten eines anderen, man irrt sich in der Tür. Das Feld möglicher Verwicklungen ist riesengroß. Was Konflikte und Verwicklungen gemeinsam haben: Die Schwierigkeiten, die sie hervorbringen, lassen sich überwinden, auflösen. Ein Happy End wäre überhaupt nicht denkbar, ohne dass ihm eine lange Kette von Problemen vorausgeht.

Sprach- und Schreibwerkstatt für junge Dichter

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Da schleicht sich eine wunderbare Geschichte in den Kopf - doch wie soll man sie zu Papier bringen? Die Autoren Christa Hein und Henning Boëtius, beide erfolgreiche Schriftsteller, zeigen, wie man Sprache gezielt einsetzt und so Spaß am Schreiben hat. Sie laden ein zu einer Reise durch Theorie und Praxis: Woraus besteht die Sprache und wie kann man sie treffend einsetzen? Welche Bedeutung haben Adjektive und wie schreibe ich abwechslungsreich? Wie erfinde ich eigene Wortbilder? Wie beginne ich meine Geschichte?
Die ganze Welt in einem Satz" ist ein spannendes Buch über Sprache und zugleich eine spielerische Anleitung zum Schreiben von Geschichten und Texten.

Autorin / Autor: Christa Hein und Henning Boëtius - Stand: 26. April 2010